Weiße Weste I

Gedimmtes Licht. Auf den mit Hussen eingehüllten Stehtischen flackern Kerzen in warmen orange. Bezaubernd dekoriert entfaltet sich der Saal vor den Gästen. Ein zarter Abendwind wiegt die weißen, bodenlangen Vorhänge wie eine Hafenboje sanft hin und her. Die lauschige Atmosphäre wird von mitreißender Musik belebt. Lebensfroh-quirlig streift der Takt an den hohen, mondänen Wänden entlang; rollt wie Meereswogen über die Veranda hinaus ins Viertel. Mehr und mehr Menschen strömen herein. Die rauchige Stimme einer temperamentvollen Latina wechselt mit Trompetenspiel. Gelächter und Gesprächspegel verschwimmen im Rhythmus der Töne. Barkeeper jonglieren mal Shaker, mal Gläser. Schäkern mit Gästen und zaubern nebenbei kunstvoll verzierte Getränke, die galant über die Theke gereicht werden. Die Musik springt wie Feuer von Herz zu Herz. Ein Meer von Tanzpaaren wirbelt durch den Saal. Lachende Gesichter. Fliegende Kleider. Manche drehen sich tellerförmig auf. Andere schmiegen sich figurbetont um die Körper. Ob edel oder sommerlich – auf der Tanzfläche werden sie zu einer pulsierenden Energie verformt: die hin- und her-fetzenden Leiber mischen sich zu einem bunten Wirrwarr. Rassige Bewegungen; farbenfroh davonfegend; einem rasanten, eindrucksvollen Feuerwerk gleich. Zwiegenähte Captoes neben Chucks. Ballerinas neben glitzernden Highheels. Sie – mittendrin. Ihre Füße fegen mit Leichtigkeit und voller Präzision über den Boden. Leidenschaft und Grazie finden in ihr Ausdruck wie Wasser im Flussbett, wie ein Kuss zwischen Liebenden. Er führt ein paar Drehungen. Ihr peitscht das dunkle Haar durchs Gesicht. Die Strähnen kleben kurz an Wange und Hals. Ihre freie Hand schwebt elegant seitwärts. Ihre Beine – Gazellen-gleich – wechseln rasant die Positionen. Keine Hast im Ausdruck. Alles erscheint federleicht.

Sie wird gemocht. Es ist den Gesichtern abzulesen, die sich ihr zuwenden wie Blumen der Sonne. Sie fügte sich so sehr in die Szene, als würde ohne sie eine schmerzhafte Lücke entstehen.

In ihr schwingen andere Töne. Sie fühlt Distanz und Ablehnung. Nicht eine Ahnung des Wohlwollens passiert ihre Wahrnehmungsschranken. Schreck durchzuckt sie, als sie eines seiner Signale nicht versteht. Eine unwesentliche Kleinigkeit. Kaum eines Gedankens wert. Doch sie verkrampft darüber. Mehr und mehr verliert sich ihr Lachen in Unsicherheit. Sie hebt die Mundwinkel verlegen. Die aufsteigende Röte hält das makellose Make-Up verborgen. Bald muss sie mitzählen, um den Takt zu halten. Ihre Schultern werden steif wie gefrierendes Wasser. Sie kommt sich alt und müde vor. Spürt unsichtbare Falten wie einschneidende Taue. Taue, die sie festzurren – wie einen farblosen Kahn, der im Hafen übrig ist und auf See nicht erwünscht. Dem die Gischt des Lebens zusetzt. Der unter verhangen Wolken und dunstigem Himmel wohnt. Der von tief schwarzen Wogen hinuntergezogen werden sollte in ein Bett aus Vergessen und Stille. Ihr Inneres nimmt die Tristesse auf wie ein Garten alles vernichtenden Hagel. Das Gefühl von Wertlosigkeit dringt ihr durchs Gemüt. Das ist ihr vertraut. Schmerz und Sehnsucht füllen ihre Augen. Ein Blick, der von unerlöstem Sein spricht. Einem getriebenen Leben. Jetzt kostet es Kraft den Rücken aufrecht zu halten, der zusammen sinken möchte. Die Füße wollen nicht mehr schweben. Der Körper nicht mehr fliegen. Sie wahrt die Fassung und macht weiter. Versucht weich zu bleiben für seine Führung.

Als er sein Lachen verliert, weil er gedanklich abschweift, fühlt sie sich schuldig. Eine Bürde, die sie bis zum Ende des Liedes im Anblick seiner veränderten Gesichtszüge ertragen muss. Das ist der unbeteiligte Ausdruck ihres Vaters! Wenn sie ihn zwingen wollte zu reagieren, so harrte er stumm aus, bis sie ihn in Ruhe ließ. Sie möchte sich am Liebsten in einem luftleeren Raum ohne Gefühl und Leben, ohne Leid, auflösen. Die Takte werden gähnend lang. Die Überzeugung eine Last zu sein klebt sich wie ein alles erstickender Ölfilm auf sie. Quetscht sich durch die Hautporen und sinkt in sie hinein. Der Tanz endet. Die Qual nicht. Sie zerdrückt sie, während ihre Hülle elegant an einen Stehtisch gelehnt durch den Luftzug eines filigranen Fächers ihre erhitzten Wangen erfrischt. Ihre Brust fühlt sich zusammengepresst an. Sie atmet Schwere und Schwärze. Diese Last hindert sie, sich in den nächsten Tanz zu stürzen, der so gerne gelebt werden würde. Diese Last hält sie davor zurück auf weitere Tanzpartner zuzufliegen, die sich ohne ein ermutigendes Signal nicht trauen, sie auf die Fläche zu führen. Diese Qual, die ihr Leben durchzieht wie Risse das Gemäuer eines zerfallenden Gebäudes. Eine Pein, die sie knechtet. Gepaart mit Scham, die sie zuschnürt. Wortlos, perfide in ihr Leben gewebt.

„Es ist ein Mädchen!“ –

der alles entscheidende Satz. In chirurgischer Höchstleistung schnitt er von Anfang an Annahme aus ihrem Leben. Formte die Kleine, die Geschundene, die sie immer noch ist. Die Scheue, die Sonnenstrahlen einsammeln möchte. Und es nicht schafft.