einsam zweisam
Ich spüre einen angenehmen Luftzug im Gesicht. Die warme Sommersonne malt lange Schatten auf die Stufen vor mir. Meine Finger fühlen sich kalt an. Ich versuche mir keine Löcher in die Backentaschen zu beißen, weil man sie vielleicht beim Küssen spürt. Die Zeit vergeht nicht.
Ich denke wie immer an ihn.
Später werde ich bei ihm sein. Mein Fuß wippt nervös auf dem Steinboden, aber ich nehme es kaum wahr. Alle scheinen den Tag zu genießen. Ich nicht. Es ist noch so früh. Die Zeit vergeht kaum.
„Später“ wird später als gedacht. Er hatte noch zu tun. Was soll‘s. Jetzt hat er Zeit.
Er sieht schön aus. Eigen. Kein typisch smarter Schönling. Gerade das macht ihn in meinen Augen attraktiv. Die hohen Wangenknochen verleihen seinem Gesicht etwas Edles. Ganz besonders mag ich die Augenpartie: so wie er sieht niemand anderes aus. Er hat schmale Augen. Wenn er lacht, was er oft tut, ziehen sie sich wie eine Linie zu den beiden Schläfen hin. Dazu geradlinige Brauen. Keine dünn gezupften, so das er ausschaut, als wäre er einem Schönheitssalon entlaufen. Sie sind weder gezupft noch in Form gekämmt, sondern natürlich schön. Die perfekte Ergänzung zu den schmalen, verschmitzten Augen. Er hat einen vollen Mund. Das betrifft nicht nur die Lippenform, sondern auch seine Eloquenz, mit der ich nur allzu gern zusammen prassele. Verbal liefern wir uns die schönsten Schlachten und übertrumpfen uns gegenseitig an Spontan-Wortspielen. Mir scheint, dass, wenn wir aufeinandertreffen, eine Explosion an Humoristischem aufsteigt, die sich immer wieder steigert. Sein Gesicht ist klar und wohlstrukturiert. Wunderschön! Und überhaupt nicht machomäßig. Er ist gepflegt, aber nicht so, wie einer von diesen Goldketten- oder Bulberry-Schönlingen. Die Haare sind auf zwei, drei Millimeter rasiert. Sein Kopf wohlgeformt. Nein. Perfekt! Es steht ihm gut und gibt ihm einen coolen Anstrich, den er durch sein Auftreten sowieso schon verkörpert. Jede seiner Gesten ist cool. Wenn er lässig den Unterarm auf dem Knie abstützt, wodurch die Armbanduhr auf den hervorstehenden Handwurzelknochen rutscht. Oder wenn er sich mit ein paar Fingern über die Stirn fährt. Oder wenn er in seiner ureigenen Art gestikuliert: ich könnte mich an jeder seiner Bewegungen ergötzen. Sie aufsaugen, wie ein perfektes Schauspiel. Er bewegt sich wie ein Gott. Ich schaue ihn an und genieße, was ich sehe. Beobachte und genieße tiefer. Ich bewundere die schwungvollen Handbewegungen. Seine lässige Art. Er schnappt den verkratzten Spiegel vom vollgestellten Couchtisch. Formt selbstverständlich einen kleinen Teil des weißen Pulvers in eine 4 cm lange Linie und zieht sie mit einem bereitgelegten Röhrchen durch den rechten Nasenflügel. Mich stört das nicht. Bei mir darf er sein wie er ist. Keine Geheimnisse. Außerdem kann er damit umgehen. Er ist nicht so wie seine Kollegen. Ich merke bald an seiner Art, dass er mich jetzt nicht mehr um sich haben will. Wahrscheinlich kommt er in seinen Flow und ich wäre ihm nur im Weg. Am liebsten würde ich bleiben können, aber ich weiß, dass ich seine Nerven furchtbar strapazieren würde. Je mehr Nähe ich jetzt von ihm will, um so distanzierter und erledigungsorientierter wird er sich auf seinen 20 Quadratmetern bewegen. Und dann käme Streit. Ich sehe ihm an, dass ihm irgendetwas nicht passt. Eine Furche fängt an, sich um seine Mundwinkel zu legen. Die sich entwickelnde Mimik kenne ich nur allzu gut. Ich werde traurig. Leere breitet sich in mir aus. Sie wird tiefer und farbloser. Greift wie ein durch sämtliche Adern dringender Frost von Innen in jede Zelle meines Körpers. Auf gar keinen Fall darf er Enttäuschung in meinem Gesicht entdecken! Auch nicht die Traurigkeit, die mir schon den Hals zuschnürt! Das gäbe eine Auseinandersetzung, die uns für Tage entzweit. Wenn nicht länger. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich die nächsten Stunden verbringen soll. Bei dem Wetter wäre ich gern im Park. Der mit dem kleinen Teich und den Trauerweiden. Wo sich oft Percussion-Gruppen zusammenfinden. Ich liebe es, wenn ihr rhythmisches Trommeln leicht an mein Ohr weht und ich mich überraschen lasse, in welche melodischen Galaxien sie mich für die nächsten Stunden akustisch entführen. Jetzt könnte ich daran keine Freude haben. Nicht mal an der Sonne. Es gibt nichts mehr, was mir jetzt hilft. Außer bei ihm zu sein. Bei ihm bleiben dürfen. Meinetwegen unsichtbar oder so klein wie einer dieser weißen Krümel auf dem Spiegel, die ihm nie im Weg sind. Ich weiß, dass ich die nächsten Stunden, egal was ich tue, überall auf der Flucht sein werde. Immer hastig darauf wartend, dass mir eine SMS von ihm erlaubt, wieder bei ihm zu sein. Im schlimmsten Fall wird es Tage dauern. Mein Körper beginnt zu zittern. Bevor er das mitkriegt, stehe ich hastig auf und gebe vor noch Einiges erledigen zu müssen. Ob es ihn störe, wenn ich jetzt gehe. Er nimmt kaum Notiz von mir. Ist schon ganz woanders. Aber sofort erleichtert, als ich Richtung Garderobe steuere. An einen Abschiedskuss ist nicht zu denken. Ich wünschte er würde mich umarmen. Seine Arme unter meiner Jacke um meinen mageren Körper schlingen. Vorhin lagen seine schlanken Hände noch auf meiner Haut. Ganz nah. Ganz eng. Ich spüre noch, wie es war. Wie ich die Luft anhielt, um diesen kostbaren Moment in Zeitlosigkeit einzufrieren. Was nicht gelang. Was noch nie gelang. Jetzt küssen wir doch! Nicht flüchtig. Nein. Innig. Wir schauen uns tief in die Augen. Seine Augen sind wie ein zauberhafter See. Ich weiß nie welches ich fokussieren soll. Beide sind schön. Ich kann mich in jedem von ihnen wie in einer Traumlandschaft verlaufen. Er streicht mir zum Abschied über die Stirn. Ich bin glücklich! Dennoch weiß ich nicht, wie ich die nächsten Stunden verbringen soll. Im Hausflur hallen mir die eigenen Schritte wie hämisches Gelächter nach. Draußen gafft die Sonne durch mich durch, dass ich ihr am liebsten eine ziehen würde. Wie soll jetzt bloß die Zeit vergehen?
Die Sonne knallt noch immer mit voller Wucht auf die Stadt. In meinem Zimmer halte ich es nicht aus. War dies nicht mal ein Ort, an dem ich mich entspannen konnte? Die handverputzte Wand glotzt mir tot entgegen. Meine Finger fühlen sich kalt an. Ich versuche mir keine Löcher in die Backentaschen zu beißen, weil man sie vielleicht beim Küssen spürt. Ich flüchte hinaus auf den Platz mit der Treppe. Die Sonne steht noch so, dass sie mir direkt ins Gesicht scheint. Mein Fuß wippt nervös auf dem Steinboden, aber ich nehme es kaum wahr. Ich bin damit beschäftigt Tränen zu unterdrücken, während ich apatisch durch die vorbeischlendernden Menschenmassen starre.
Die Dämmerung sauge ich wie heilsame Arznei auf. Ich stehe mal wieder vor seiner Tür. Er hat jetzt Zeit. Um ihn nicht zu stressen, bin ich eine halbe Stunde später da. Ich klingele jetzt zum fünften Mal. Von unten sehe ich, dass aus seinem Apartment Licht durch die Lamellen scheint. Viele Fenster sind dunkel. Ich zähle sie. Von oben nach unten. Von rechts nach links. Dann die Klingelschilder. Seit ich warte, sind schon drei Leute rein, beziehungsweise raus. Wie kann er das Klingeln wieder nicht hören? Er hat doch bloß ein ein-Zimmer-Appartement! Ich hocke mich auf den kalten Marmor. Das beruhigt. Ich bin müde herumzustehen. Oben vor der Zimmertür geht das Warten weiter. Früher war das anders. Als ich die ersten Mal hier sein durfte. Trotzdem ist vieles so ähnlich wie damals. Ich bin immer noch erwartungsvoll aufgeregt, wenn er sein heiliges Heim mit mir teilt. Eigentlich möchte er, dass ich einziehe. Zweisamkeit wären zwei Zahnbürsten in nur einem Becher. Ich bin das Highlight des Tages, sagt er, als er mich in die Arme schließt. Es tut so gut bei ihm zu sein. Bei ihm fühle ich mich ganz. Am meisten, wenn er mir ganz nah ist. Er ist seit drei Tagen wach. Das ist sein Flow. Oft ist er auch ne ganze Woche wach. Manchmal macht mir das Sorgen. Aber er hat alles im Griff. Er macht die ganze Zeit wichtige Geschäfte am Telefon. Ich verstehe davon nichts. Sein Pulli hängt locker an seinem Körper hinunter. Darunter eine stylische Hose. Er sieht so gut aus! Nur nackt mag ich ihn nicht gern ansehen. Ich mache dann die Augen zu. Er ist so dünn. War das immer so? In seinen Klamotten fällt mir das nicht auf. Ich würde gern in seinem Arm liegen. Ich lenke mich ab, starre immer wieder vor mich hin. Bald ist er soweit und hat Zeit für mich. Wir steigern uns in einen lustigen, verbalen Austausch. Er bringt mich auf die verrücktesten Ideen. So lustig wie mit ihm ist sonst keine Unterhaltung. Es macht unendlich viel Spaß mit ihm Zeit zu verbringen. Am liebsten möchte ich immer Zeit mit ihm verbringen. Als das Telefon klingelt, brüllt er plötzlich wütend hinein. Wir streiten danach mehrfach. Warum weiß ich nicht mehr. Ich fühle mich leer und schuldig. Ich habe Angst, dass er mich nicht mehr will. Nachts muss er los. Mit einem Kollegen. Ob ich bleibe und auf ihn warte? Ich freue mich riesig darauf hier zu sein, wenn er wieder kommt. Er sagt immer ich gäbe ihm Halt. Ich sei sein zu Hause. Ja! Niemand kann so auf ihn eingehen wie ich! Kaum ist er weg, langweile ich mich fürchterlich. Ich weiß nicht wohin ohne ihn. Aber hier in seinem Apartment ist es einfacher.
Die Sonne wandert langsam um die Häuserwände. Es ist noch warm, aber die Schatten verschwimmen schon zu einer Fläche auf dem mäßig besuchten Platz. Ich mag es, wie die Menschen an mir vorbeirauschen. In meinem Zimmer konnte ich nicht bleiben. Es erdrückt mich. Die Stufen vor mir liegen bald im Schatten. Meine Finger sind eiskalt, als wäre das Blut in ihnen erstarrt. Ich versuche mir keine Löcher in die Backentaschen zu beißen, weil man sie vielleicht beim Küssen spürt. Mein Fuß wippt nervös auf dem Steinboden, aber ich nehme es kaum wahr. Ich spüre meinen Körper nicht. Nur Enge und Leere. Ist das mein Körper? Ich möchte mich überall kratzen, damit ich etwas anderes empfinde, als Zerrissenheit. Später sehen wir uns. Es wird noch dauern. Ich weiß nicht wohin mit mir. Wann ist später? Meinen Mund habe ich mir blutig gebissen. Die Backentaschen sind aufgequollen. Ich merke es nicht.
Zweisamkeit sind zwei Zahnbürsten in nur einem Becher. Meine steht schon längst neben seiner!