Co-Abhängigkeit I

Sein Haar fällt locker ins Gesicht. Es reicht bis zu den Schultern. Surferlook. 

Er hockt an der Theke. 
Allein. 

Es ist spät. Beziehungsweise früh. Der Laden boomt. Er wirkt gelangweilt. Woran denkt er? Die Beine lässig übereinander geschlagen. Bluejeans. Am Knie aufgeraut. Der Saum franst. Sieht toll aus. Ist er deprimiert? Drumherum Stimmengewirr. Menschen kommen in sich ändernden Formationen zusammen. Wie Vogelschwärme. Wie Wolkengebilde. Ständig ihre Anordnung verändernd. Ein unaufhörlicher Wandel. Ohne Hast. Ein Bild, das in fließender Harmonie zu einem anderen wird, um dann erneut transformiert zu werden. Das ist der Pulsschlag dieses Ladens. Seine Energie vermittelt ein Wir. Lädt ein, mit Bekannten wie Fremden in gemeinschaftliche Atmosphäre einzutauchen. Verheißt Überraschendes. Eine Zeit, die keinem planbaren oder vorhersehbaren Schema folgt. Eine Nacht ohne Vorgaben. Es belebt, nicht zu wissen, wohin der Unterhaltungs-Strom einen tragen wird. 

Er hockt außerhalb von all dem. Physisch dabei. Dennoch außerhalb. Abgegrenzt. Als würde er das Wir verweigern. 

Es macht mich traurig, ihn allein sitzen zu sehen. Was beschäftigt ihn? 

Er gefällt mir. Bekannte umringen mich. Wir genießen das Wiedersehen. Dennis übertrifft sich selbst an verrückt-lustigen Einwürfen. Seine Körpersprache tut das übrige. Wir zucken wie Blätter im Wind, weil das Lachen unsere Körper in seltsamste Haltungen biegt. Marc, der hübsche Kellner, schenkt mir freundliche Blicke. Hoffentlich sieht Sarah das nicht. Sie wäre eifersüchtig. Einer unserer Kumpel bemüht sich um Rahels Aufmerksamkeit. Sie diskutiert hoffnungslos ernsthaft mit jemand anderem. Ich möchte wissen, wie es Natascha heute ergangen ist. Morgens wirkte sie abgeschlagen und überfordert. Max und Andy überschlagen sich verbal, während sie von dem Konzert am Freitag berichten. Immer wieder kommen Leute dazu, die ich kenne oder nicht kenne. Es macht Spaß, sich auszutauschen. Ich fühle mich gelöst und frei. Es ist schön, hier zu sein. Mein Blick schweift durch die Menge.

Sein Bier ist bald leer. 

Der Trubel im Laden nimmt zu. Ein kalter Windzug huscht mir durchs Gesicht, weil die Tür mal wieder aufgerissen wird. Marc schafft kaum noch die leeren Gläser einzusammeln. Martin blüht in einem Gespräch mit Rebecca auf. Und Sarah schüttet Maria ihr Herz über die aufwühlende Premiere aus, von der sie gerade kommt. Fetzen einer politischen Diskussion dringen an mein Ohr.

Mein Blick wandert zu ihm.

All die anderen nehme ich kaum noch wahr. Er starrt vor sich hin. Wirkt traurig. Was bekümmert ihn? Innerlich verlasse ich das Drumherum. Die Unterhaltungen verschwimmen. Das pulsierende Leben nimmt seinen Lauf. Ohne mich. Ich schaue zu ihm. Sauge den Anblick auf. Die Zeit steht still. Die Akustik klingt ab. Zwei Falten halten seine Mundwinkel im Konvex. Ich finde ihn schön. Seine Augenlider sind müde auf die Theke gerichtet. Ich spüre Verbundenheit. Er sieht mich nicht an. Er nimmt mich nicht wahr. Ein Drängen entsteht hinüberzugehen. Ich möchte ihn ansprechen. Ihm mein Lächeln als Decke der Geborgenheit schenken. Meine ungeteilte Aufmerksamkeit als Hort des Trostes. Möchte mich ihm ausbreiten, wie ein Teppich, auf dem er sich entspannen kann. Das Drängen wird zum Muss. Sein augenscheinliches Desinteresse zum Dompteur, der mich in Aktion zwingt. 

Gebannt versinke ich in seiner Anziehungskraft. Er starrt ins Nichts, schüttet sich das Bier runter. Starrt weiter ins Nichts. Wie kann ich dich trösten? Für ihn existiere ich nicht. Ich bin Teil all dessen, was er ausblendet. Teil von dem Leben, das direkt neben ihm stattfindet. Er außen vor. 

Ich kann dich trösten! 

Die verbrauchten Gesichtszüge sehe ich nicht. Das verwahrloste Äußere deute ich in Coolness um. Den Stumpfsinn, den er ausstrahlt, verdrehe ich in Attraktivität. Blind für seine wahre Erscheinung.

Er steht auf. Die Tür schnappt auf. Schnappt zu. Ein kalter Luftzug streift meine Schläfen. Er ist fort. 

Im selben Augenblick verneine ich den Abend. Ich gefriere innerlich. Hätte ich doch nicht so lange gezögert! Wäre ich doch nur hinübergegangen! Meine Offenheit hätte ihn berühren können! Ich hätte ihn von meiner Liebenswürdigkeit überzeugen sollen.

Leere breitet sich in mir aus.